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zu Politik und Recht

Eugen David

Institutionelles Abkommen: „Ermessen“ des Schiedsgerichts? EuGH als „Experte“?

Die Wirtschaftskommission (WAK) des Nationalrates fragt sich (30.01.2019), wie gross das Ermessen des Schiedsgerichts sei, „wenn dieses von der EU angefragt wird, den Europäischen Gerichtshof anzurufen.“ Dazu sollen Rechtsgutachten eingeholt werden.

Staatssekretär Balzaretti erklärt im Tagesanzeiger (14.02.2019): „In vielen Fällen ist das bilaterale Recht und die Rechtsprechung des EuGH so klar, dass das Schiedsgericht ohne weitere Abklärungen selber entscheiden kann. In den anderen Fällen ist es wie bei einem nationalen Gericht, das einen Experten beizieht: Den konkreten Fall entscheidet das Gericht selber – gestützt auf den Experten.“

Was sagt der Vertragstext?

Das Institutionelle Abkommen (= Rahmenabkommen) äussert sich zum Vorabentscheid des EuGH wie folgt:

  • „Dans la mesure où leur application implique des notions de droit de l’Union européenne, les dispositions du présent accord et des accords concernés et les actes juridiques de l’Union européenne auxquels référence y est faite, sont interprétés et appliqués conformément à la jurisprudence de la Cour de justice de l’Union européenne, antérieure ou postérieure à la signature de l’accord concerné.» Article 4 al. 2

  • «Lorsque le différend soulève une question concernant l’interprétation ou l’application d’une disposition visée dans le deuxième paragraphe de l’article 4 du présent accord, et si son interprétation est pertinente pour régler le différend et nécessaire pour lui permettre de statuer, le tribunal arbitral saisit la Cour de justice de l'Union européenne. L'arrêt de la Cour de justice de l'Union européenne lie le tribunal arbitral.» Article 10 al.2

Beispiel Freizügigkeitsabkommen

Betrachtet man beispielsweise die Regelung des Freizügigkeitsabkommens 1999 (FAZ) über die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen durch Handwerksbetriebe wird schnell klar, dass es praktisch regelmässig um „des notions de droit de l’Union européenne“, also um Binnenmarktrecht, geht (Artikel 5 und Anhang I/Kapitel IV des FAZ).

Kommt es zum Streit darüber, ob die umfangreichen bürokratischen Hürden und Kontrollen des schweizerischen Entsenderechts Handwerksbetriebe aus den angrenzenden Binnenmarktländern diskriminieren, muss das Schiedsgericht laut dem Institutionellen Abkommen von sich aus obligatorisch den verbindlichen Vorabentscheid des EuGH einholen.

Nach dem Institutionellen Abkommen geht es nicht um das „bilaterale Recht“, sondern um das von der Schweiz übernommene europäische Binnenmarktrecht. Dieses Recht soll einheitlich im gesamten Binnenmarkt, einschliesslich der Schweiz, ausgelegt und angewendet werden.

Dies gilt insbesondere für die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe des Binnenmarktrechts, wie „Allgemeininteresse“, „zwingende Gründe“ „öffentliche Ordnung und Sicherheit“, „Verhältnismässigkeit“, „Diskriminierung“, „Gleichbehandlung“, „Erbringung von Dienstleistungen“, „Beschränkung grenzüberschreitender Dienstleistungen“, „Kontrolle“ etc.

Klares Recht?

Sind das Binnenmarktrecht und die zugehörige Rechtsprechung des EuGH bezüglich der Konformität des schweizerischen Entsenderechts für Schweiz und EU unbestritten klar, besteht kein Streitfall und das Schiedsgericht muss überhaupt nicht angerufen werden.

Offenbar war das bisher nicht der Fall. Die EU fordert ja das Institutionelle Abkommen, weil sie die bürokratischen Hürden seit vielen Jahren für diskriminierend hält, während die Schweiz seit 2006 die gegenteilige Meinung hat.

Hätte die Schweiz rechtzeitig im Gemischten Ausschuss den jetzt im Institutionellen Abkommen akzeptierten Abbau der Hürden ausgehandelt, hätte die EU keinen Anlass gehabt, ein solches Abkommen zu verlangen.

Das haben der Bundesrat und seine Vertreter im Gemischten Ausschuss verpasst, aus Angst vor dem politischen Lärm der Europagegner. Jetzt hat der Bundesrat die Konzessionen ins Institutionelle Abkommen gepackt: am Lärm der Europagegner, die um ihre Privilegien fürchten, ändert sich nichts – im Gegenteil.

Einmal mehr bestätigt sich, dass langes Hinausschieben von notwendigen Entscheiden zwecks Vermeidung politischer Unannehmlichkeiten kein optimales Regierungskonzept ist. Trotzdem befolgt es der Bundesrat in der Europapolitik seit Jahren – und auch heute noch. Bequemlichkeit ist stärker als Vernunft.

Kein „Ermessen“ des Schiedsgerichts

Wird das Schiedsgericht angerufen und dreht sich der Streit darum, ob das schweizerische Entsenderecht das europäische Binnenmarktrecht verletzt, muss das Schiedsgericht nach Artikel 10 Absatz 2 InstA beim EuGH einen verbindlichen Vorabentscheid einholen.

Das Schiedsgericht hat diesbezüglich kein „Ermessen“. Es hat auch keine Befugnis, unbestimmte Rechtsbegriffe des europäischen Binnenmarktrechts selbständig – unabhängig vom EuGH - auszulegen.

Kein Expertengutachten

Der Vorabentscheid des EuGH ist kein Expertengutachten, wie es in der nationalen Zivilprozessordnung vorgesehen ist. Dem Schiedsgericht steht keine freie Würdigung des EuGH-Vorabentscheids zu wie den Gerichten im Falle der Einholung eines Expertengutachtens im Beweisverfahren.

Der Vorabentscheid ist für das Schiedsgericht verbindlich wie ein Bundesgerichtsurteil für ein kantonales Gericht verbindlich ist. Das gilt insbesondere auch für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe des Binnenmarktrechts.

Betrachtet also der EuGH eine Vorschrift des schweizerischen Entsenderechts als Verletzung des europäischen Binnenmarktrechts, kann das Schiedsgericht daran nichts ändern. Es kann in seinem Urteil dieses Resultat nur der Schweiz und der EU mitteilen.

Folgen bei Missachtung des EuGH-Entscheids

Die Schweiz kann sich laut InstA einseitig über das Urteil hinwegsetzen.

Tut sie dies, kann die EU das Freizügigkeitsabkommen suspendieren oder andere Ausgleichsmassnahmen treffen, z.B. im Warenverkehr oder in der Zusammenarbeit im Bereich Bildung und Forschung. Dauert der Streit an, kann die EU das Freizügigkeitsabkommen kündigen, womit dann alle sieben bilateralen Verträge dahinfallen.

Die Sanktionsmöglichkeiten der EU gegenüber dem Nicht-Mitglied Schweiz sind bedeutend gravierender als die Sanktionsmöglichkeiten der EU gegenüber einem Mitgliedsland, das Binnenmarktrecht verletzt.

Unnötiges Verfahren ohne Souveränitätsgewinn

Das komplexe und aufwendige Staaten-Schiedsgerichtsverfahren in Den Haag ist eine unnötige Schlaufe, die souveränitätspolitisch nichts bringt und den betroffenen Rechtsuchenden nur zusätzliche Umtriebe, Zeitverluste und Kosten aufbürdet. Laut Staatsekretär Balzaretti wird ein solches Verfahren viele Jahre dauern.

Im Interesse aller in der Schweiz vom Binnenmarktrecht Betroffenen wäre es, das Schweizerische Bundesgericht zu verpflichten, zum Binnenmarktrecht den Vorabentscheid des EuGH einzuholen.

Die Schweiz anerkennt ja ausdrücklich, dass das Abkommen Rechtssicherheit und Gleichbehandlung im Binnenmarkt bezweckt, was nur durch eine einheitliche Rechtsanwendung garantiert werden kann. (Artikel 1 InstA). Um Gleichbehandlung und Rechssicherheit im Binnenmarkt zu garantieren, existiert der EuGH.

Souveränitätspolitisch wäre die Lösung mindestens gleichwertig, wenn nicht besser. Schliesslich ist das Schiedsgericht in Den Haag kein Schweizer Gericht, zwei der drei Richter sind Ausländer.

Folge des gewählten Staaten-Schiedsgerichtsverfahrens ist eine Schlechterstellung der Schweizer und der Schweizer Unternehmen im Rechtsschutz gegenüber allen andern Beteiligten im europäischen Binnenmarkt, wenn sie von einer Verletzung des Binnenmarktrechts betroffen sind.

Die Schweiz ist „rule taker“ im Binnenmarkt

Insgesamt bestätigt das Institutionelle Abkommen, dass die Schweiz – soweit es um das übernommene Binnenmarktrecht geht – im Bilateralismus blosser „rule taker“ ist, ohne Einfluss auf die Gesetzgebung und die Rechtsprechung. Das aber ist von der Schweiz in der aktuellen politischen Konstellation ausdrücklich gewollt.

Wer – wie die Schweiz - am Binnenmarkt teilnimmt, aber die geteilte Souveränität eines Binnenmarktlandes ablehnt, verliert am Ende jede Souveränität im Wirtschafts- und Verkehrsrecht.

16.02.2019

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